Margarete Schweikert

Die Liedkomponistin

Margarete Schweikert schrieb für ausgebildete Stimmen, für Berufssängerinnen und -sänger, auch wenn in einigen Liedern Volksliedtonfälle anklingen. Doch auch diese Lieder sind ganz und gar nicht einfach gesetzt, die Komponistin nutzte die Erweiterung der harmonischen Palette zur Steigerung der Ausdrucksmöglichkeiten. Das wurde von ihren Zeitgenossen durchaus als modern eingeschätzt. Die Nordbayrische Zeitung vom 11. November 1912 urteilte: „Als Komponistin hat mir Frl. Schweikert Respekt eingeflößt. Sie weiß ihre Texte (manche sind zwar von zweifelhafter Güte) treffend zu illustrieren, findet einen glücklichen, nicht in ausgetretenen Pfaden sich bewegenden musikalischen Ausdruck.“ Sehr frei geht sie mit den Tonarten um, die längst nicht mehr die Bindungskraft haben, die ihnen in der Romantik zukam. In manchen Liedern wird die Grundtonart nur gestreift oder sie klingt erst am Ende an. Die Harmonik steht ganz im Dienste eines dramatisch gesteigerten Ausdrucks, sie ist zumeist hoch komplex und extrem farbenreich. Häufig greift Margarete Schweikert zu Tonarten mit mehr als vier Vorzeichen, sehr gerne zu Molltonarten, die harmonisch mehr Möglichkeiten offen lassen als die Durtonarten. Darüber hinaus setzt sie flexible Metren ein, wenn es der Text gebietet. Musikalische Zusammenhänge schafft sie vor allem mit rhythmischen und melodischen Motiven und ihren Varianten und durch hohe Expressivität in der Textausdeutung. Sie hat sehr genaue Vorstellungen, wie ihre Lieder klingen sollen. Die Vortragsbezeichnungen „Mit großem Ausdruck“, „Das gleiche Tempo, doch zart und innig im Ausdruck“, „stark in Ton und Ausdruck“, „mit Überschwang“ oder „leicht, mit Grazie“ beziehen sich auf emotionale Werte, denen Schweikert große Aufmerksamkeit zukommen lässt.

Obwohl sie auch wunderbar heitere, komische Lieder schrieb, scheint es so, als ob das Dramatische, Existenzielle, das Alles-oder-Nichts Margarete Schweikert besonders angezogen hat. Die Liedzyklen bestätigen, dass bei Schweikert tatsächlich dunkle Farben besonders intensiv und eindrücklich leuchten. Ihre Tochter Christiane erzählt, dass ihre Mutter große, bedeutende Musik als „stark“ bezeichnet hat, dass sie eine starke Persönlichkeit war, die große Wirkung auf andere hatte. Ebenso stark waren ihre Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit. Diese Kraft teilt sich in ihren rund 160 Liedern auf sehr unmittelbare Weise mit.

Die Liederzyklen

Margarete Schweikerts Liederzyklus Im bitteren Menschenland auf Texte des österreichischen Lyrikers Ernst Goll (1887 - 1912) wurde am 18. Mai 1915 in Karlsruhe uraufgeführt. Schweikert bezeichnete ihn dabei als „Liedfolge für Tenorstimme und Klavierbegleitung“ und gab ihm die Opusnummer 9. Die gleichnamige Gedichtsammlung war 1912 kurz nach dem Freitod des jungen Dichters von dessen Freund und Förderer Julius Franz Schütz herausgegeben worden. Margarete Schweikert wählte aus den rund 130 Gedichten Golls 10 aus und stellte sie zu einem Zyklus zusammen, dessen Melancholie und Todessehnsucht von der Erinnerung an Liebe und Natur aufgehellt wird. Schweikert griff in Golls Texte dadurch ein, dass sie an besonders dramatischen, ja ekstatischen Stellen einige Worte wiederholt. Die Lieder sind durchkomponiert, auch wenn es sich um variierte Strophenlieder handelt. Die musikalische Einheit der Lieder wird weniger von der vorgegebenen Tonart hergestellt, mit der Margarete Schweikert sehr frei umgeht. Einheit schaffen vielmehr die Motive in der Begleitung, deren Bewegungsmuster in unterschiedlicher klanglicher Erscheinung variiert werden.

 

Umrahmt wird die Liebeshandlung von dem Lied Opfer an den „Herrn“ auf dem „Wolkenthron“, in dem diesem dafür gedankt wird, dass er die Möglichkeit gegeben hat, aus „Not und Bitterkeiten“ in das „Land der Sehnsucht“ zu entschweben. Das zehnte Lied, Die Liebenden, berichtet vom Tod der beiden, die „der Schönheit Boten im bitteren Menschenland“ waren. Die zyklische Form wird durch die in weiten Teilen gleiche musikalische Gestalt des zweiten Liedes Ich sah ein Blümlein ... und des zehnten, letztes Liedes betont. In beiden Liedern finden sich die Worte „Sehnsucht und Weh“ an exponierter Stelle. Deutlich wird diese Wiederholung auch dadurch, dass diese beiden Lieder die schlichtesten des ganzen Zyklusses sind – Melodie und Begleitung erinnern an ein Volkslied. Weniger offensichtlich ist die Verwendung des Tritonus in beiden Liedern: Erstens ist er durch die spätromantische Harmonik nicht in seiner ehemaligen Schärfe wahrzunehmen, zweitens wird er von der Komponistin bisweilen im Klaviersatz verborgen. In der Singstimme erklingt er ganz am Schluss des Zyklus, abwärts auf den Text „im bitteren Menschenland“. Aufwärts, wie ein Aufschrei, ist der Tritonus in den Worten „Sehnsucht und Weh“ zu hören, die, quasi als Refrain, in den Liedern Ich sah ein Blümlein … und Die Liebenden wiederkehren. Mit diesem „Leitintervall“ - der Tritonus steht für das Leiden am „bitteren Menschenland“ – eröffnet Margarete Schweikert den ganzen Zyklus – zum Grundton ais setzt sie den Tritonus fis – his. Im dritten Lied Jubel ist das letzte Intervall der Singstimme auf die Zeile „und alles ist Sonne, alles Licht“ eine Quart aufwärts – das ins Ekstatische gewendete Gegenstück zum Tritonus.

Formal besonders interessant sind die Lieder an ein Mädchen op. 15 für Tenor nach Gedichten von Hans Heinrich Ehrler, die Schweikert mit „Gesangsscene nach Gedichten von H. H. Ehrler“ überschrieb. Das Modell dafür dürfte wohl Ludwig van Beethovens durchkomponierter Zyklus An die ferne Geliebte op. 98 sein, dessen Komposition Beethoven im April 1816 abschloss. Gemeinsam ist den Zyklen von Beethoven und Schweikert das Thema der unerfüllten Liebe. Der Schriftsteller, Lyriker und Redakteur Hans Heinrich Ehrler (1872 - 1951) arbeitete seit 1907 als Hauptschriftleiter des demokratischen „Badischen Landesboten“ in Karlsruhe, der Gedichtband Lieder an ein Mädchen erschien 1912 im Münchner Verlag Albert Langen.

 

Die Gedichte des Liederzyklus sind sehr kurz. Musikalisch bindet die Komponistin ihn durch meist längere Zwischenspiele zu einer Gesangsszene zusammen. Der Zyklus beginnt und endet in B-Dur, wobei die Komponistin mit den vorgeschriebenen Tonarten sehr frei umgeht. Das wichtigste musikalische Motiv des neunten, letzten Liedes Und wenn ein Sturm herunterbricht erklingt zu Beginn des Zyklus einmal in der Begleitung. Die drei Viertel des Sechsvierteltaktes haben triolischen Charakter, Triolen ziehen sich durch die Klavierstimme des ersten Liedes Die Wolke muss zum Himmelsrand und erscheinen am Ende des vorletzten Gedichtverses auch kurz in der Singstimme. Auch im zweiten Lied Du bist noch so von Mutter her dominieren triolische Bewegungen in Singstimme und Klavier, im dritten Es rieselt etwas über dein Gesicht nur im Klavierpart. Das vierte Lied Wenn ich holder Liebreiz dich berühre ist im Dreivierteltakt gesetzt, auch hier also ein Dreierrhythmus. Im fünften Lied Was hat getan dir dieser eine Kuß wird die Klavierstimme von Triolen dominiert. Darüber hinaus steht es im ungewöhnlichen Fünfvierteltakt, dessen Taktschwerpunkt variabel ist, je nach dem, ob man 2 – 3 oder 3 – 2 als Muster annimmt. Rezitativisch gesetzt ist die Singstimme des sechsten Liedes Hab ich beladen dich mein Kind. Sie ist zunächst mit Stützakkorden unterlegt, die langsam in absteigende Bewegungen übergehen, die tonmalerisch die fallenden Blüten symbolisieren. Im achten Lied Erloschen ist der Sterne schimmernd Heer gibt Margarete Schweikert Sechsviertel- und Viervierteltakt vor und verwendet sie flexibel, je nach dem, wie die Deklamation des Textes es verlangt. Am Ende des Gedichts erklingen wieder Triolen im Klavierpart, deren Bewegungsmuster in die drei Viertel triolischen Charakters des Sechsvierteltaktes übergehen, der auch das kurze letzte Lied dominiert.