Klangrausch - unplugged

Die Händel-Festspiele in Karlsruhe

Preisfrage: Was hat Georg Friedrich Händel mit Karlsruhe zu tun? Antwort: Nichts. Händel war nie hier, und ich vermute, dass er von der badischen Residenz, die zu seinen Lebzeiten nur ein kleines Nest am Rhein war, nie etwas gehört hat. Nichtsdestotrotz - ich liebe dieses Wortungeheuer - hat ein findiger Intendant, dessen Namen weniger mit großartigen Würfen namentlich - noch so ein Lieblingswort - in Sachen Operninszenierungen in Verbindung gebracht wurde, beschlossen, dass in Karlsruhe die Barockmusik gepflegt werden müsse. In Halle, damals finsterste DDR, gehen seit 1952 regelmäßig Händel-Festspiele über die diversen Bühnen der Stadt und der Umgebung. Halle ist immerhin Händels Geburtsstadt, auch wenn er ihr mit 18 Jahren den Rücken gekehrt hat. In Karlsruhe fing man klein an, und die ersten Händel-Tage wurden 1978 im Badischen Staatstheater durchgeführt. Der Start war schon ein bisschen zäh, Alte Musik noch kein Thema: Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine damalige Musiklehrerin berichtete, dass an einem Samstagabend die Vorstellung von Alcina abgesagt werden musste, weil im Vorverkauf nicht genügend Karten weggegangen sind. Historisch informierte Aufführungspraxis war damals noch eine Sache für ein paar Insider, Verzierungstechnik für Sänger*innen und Instrumentalist*innen unbekanntes Terrain, historische Instrumente schaute man sich  im Museum an. Und erst die Countertenöre, heute eine Selbstverständlichkeit, damals mit Befremden bestaunt. Es soll sogar einen gegeben haben, der, um jeden Zweifel auszuräumen, bei einem Konzert von seinen Kindern erzählte ...

Der ersten Counter, den ich gehört und gesehen habe, war Paul Esswood. Das war Ende der 1970er Jahre, und er schwang sich als Puck in Benjamin Brittens Oper Der Sommernachtstraum an einer Liane durch den Bühnenraum des Badischen Staatstheaters. An seine Stimme kann ich mich leider nicht mehr erinnern, nur daran, dass er einige Jahre später schon ziemlich brüchig klang. Es ist so schade, dass diesem wunderbaren Stimmfach nur eine so kurze Zeit gegeben ist ... Dann kam James Bowman, der in Karlsruhe den Julius Cäsar sang oder zumindest singen sollte. Dieser Julius Cäsar, mit Witz und viel Freude am Detail inszeniert von Jean-Louis Martinoty, war der Moment, in dem ich mich unrettbar in Händel speziell und die Barockoper im Allgemeinen verliebt habe. Ich erinnere mich gerne an die Premiere, bei der Bowman leider krank war und eine Altistin im Graben den Cäsar sang und Martinoty ihn auf der Bühne spielte. Das gehört zu meinen bleibenden Erinnerungen, vielleicht auch, weil ich erfahren habe, dass Perfektion nicht das Wichtigste in der Kunst ist, sondern Ausdruck. Die nächste Erinnerung ist Poro: Die Oper wurde damals in einer Einrichtung der Festspiele Halle auf Deutsch und sozusagen ausgetextet gespielt. Das bedeutet, keine Wiederholungen des Textes in den Arien, sondern bei jeder musikalischen Wiederholung neuer Text. Die armen Sängerinnen und Sänger, die sich dieses unsinnige Gereime merken mussten! Das Konzept jedenfalls erwies sich als eine Sackgasse der Händel-Pflege ... Ich erinnere mich an einen Xerxes und daran, dass in der Frühzeit der Karlsruher Händel-Festspiele die meisten Rollen mit Ensemblemitgliedern des Badischen Staatstheaters besetzt wurden.

In den ersten Jahrgängen der Karlsruher Händel-Festspiele wurden auch Deidamia und Semele aufgeführt, die Semele wird auch 2017 wieder gespielt. Händel war zwar sehr, sehr fleißig, aber langsam ist Karlsruhe mit seinen Opern einmal durch. Ich erinnere mich auch an tableauartige szenische Aufführungen einiger Oratorien, die ich nicht vermisse. Deutlicher sind mir die Namen einiger Countertenöre in Erinnerung, Graham Pushee, Derek Lee Ragin, Drew Minter, Franco Fagioli .... Deutlicher jedenfalls als die eine oder andere Inszenierung. Dann habe ich die Händel-Festspiele etwas aus dem Blick verloren. Bis zu Radamisto 2009: Diese Oper wurde im Kerzenlicht und nach barocken Bewegungsmustern aufgeführt. Letzteres war sehr interessant, ersteres zauberhaft. Damals wurden alle Alt- und Sopranrollen mit Frauen besetzt. Die gute alte Hosenrolle hat auch bei Händel längst noch nicht ausgedient. Ganz bezaubernd war auch ein Rinaldo, gespielt von der Mailänder „Puppen-Scala“ Carlo Colla e Figli, im  halbhoch gefahrenen Orchestergraben live musiziert und gesungen. Barockoper hat etwas sehr Artifizielles und märchenhaft Fernes, so dass ein guter Schuss Entrücktheit bei der Aufführung kein Fehler ist. Die Libretti unterscheiden sich meist nur durch ihr Setting, die Liebes- und sonstigen Intrigen um Macht und Herrschaft sind durchaus austauschbar. Götter und antike Helden sind für Mitteleuropäer des 21. Jahrhunderts wahrlich keine Identifikationsfiguren, und ich vermute mal, dass sich auch das barocke Publikum eher von den furios interpretierten Gefühlen berühren ließ als vom Schicksal Julius Cäsars und der Ptolemäer. Darüber hinaus waren die Götter- und Heldengeschichten sowieso sattsam bekanntes Bildungsgut.

Julius Cäsar: Diese Oper hat nicht nur meine Händel-Begeisterung entfacht, Giulio Cesare war auch die erste Aufnahme, die ich mir von einer Händel-Oper gekauft habe. Zwei oder drei LPs, das gute alte Vinyl. Deshalb besitze ich sie heute nicht mehr, und so kann ich meine Eindrücke nur noch aus der Erinnerung beschreiben. Es war die Aufnahme von 1967 mit dem New York City Opera Chorus and Orchestra unter der Leitung von Julius Rudel. Mit der stupenden Beverly Sills als Cleopatra und dem Bass-Bariton Norman Treigle in der Titelrolle. Aus heutiger Sicht schlicht unvorstellbar, aber so weit ich mich erinnere, hat er sich höchst achtbar durch die vielen Koloraturen gekämpft. Es gab noch einen zweiten Bass, der vermutlich den Tolemeo gesungen hat. Abgesehen davon, dass die ganze Händel'sche Klangarchitektur mit der Wahl tiefer Männerstimmen völlig auf den Kopf gestellt wurde, weiß ich nicht, ob diese Aufnahme, die es zumindest in den USA noch zu kaufen gibt, von mehr als historischem Interesse ist. Was wurde mit Händels Opern nicht alles angestellt: Ein Klassiker ist das Weglassen des wiederholten A-Teiles der Arien. (Aaaalso: Barockarien sind meist in der da-capo-Form komponiert mit einem A-Teil, der nach einem in Inhalt und Musik kontrastierenden B-Teil wiederholt und wenn nötig ausgeziert wird. Meine Freundin Petra hat mal ein schönes Beispiel gemacht von einer Arie, in der zunächst der Tod der Schwiegermutter beklagt wird: Teil A: "Oh, wie traurig, gerade ist meine Schwiegermutter gestorben, wir werden sie soooo vermissen, die gute alte Dame ....". Dann Teil B: "Aber sie hinterlässt uns ein nettes Sümmchen und das Haus am Markt. Endlich können wir mal wieder in Urlaub fahren!". Wiederholung Teil A ....) Das Weglassen des wiederholten A-Teils kam leider auch noch zu Zeiten von historisch informierten Aufführungen und Aufnahmen vor. Ich erinnere mich an eine Aufnahme aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, bei der konsequent alle B-Teile weggelassen wurden. Es war ein damals durchaus renommiertes Spezialensemble, leider erinnere ich mich nicht mehr genau an den Titel. Es könnte Tamerlano gewesen sein. Gerade habe ich auf Wikipedia gelesen, dass es eine Tamerlano-Aufnahme aus dem Jahr 2008 gibt, bei der Plácido Domingo den Bajazet singt.  Hm, ich verehre Domingo sehr, und ich bewundere, dass er immer noch als ernst zu nehmender Sänger auf der Bühne steht, aber Händel .....? Ich werde mir die Aufnahme nicht zulegen. Meine Lieblingsaufnahme von Domingo ist übrigens die Traviata mit Carlos Kleiber und Ileana Cotrubas. Die hatte ich erst auf Vinyl, jetzt auf CD. 1977 mit dem Bayerischen Staatsorchester aufgenommen, ein Klassiker.

Zu meinen eher schrägen Händel-Erfahrungen gehört die CD von Rolando Villazón, die im Händel-Jahr 2009 auf den Markt kam. Begleitet wird er von den Gabrieli Players unter der Leitung von Paul McCreesh. Aaaaalso, Villazón ist kein Händel-Sänger, zumindest vom Timbre her nicht, und seine Koloraturen sind schon ziemlich rumpelig. Auf der anderen Seite nötigen mir sein Temperament und sein Elan, seine Begeisterung Respekt ab. Wenn ich einen großen Schubs brauche, um mich aus einem Stimmungstief aufzurappeln, dann greife ich zu dieser CD. Das wirkt immer. Meine Lieblingsarie darauf ist Dopo notte aus dem Ariodante. Joyce DiDonato sing diese Arie viel, viel "richtiger" und schöner, aber manchmal ist mir die Verwegenheit Villazóns lieber. 

 

Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos.